Spitzenkandidatenprinzip

Ein umstrittenes Modell bei Europawahlen

Spitzenkandidatinnen und Spitzenkandidaten gibt es bei den verschiedensten Wahlen: bei den Landtagswahlen und der Bundestagswahl in Deutschland, bei nationalen Wahlen in vielen anderen Ländern und seit 2014 auch bei der Europawahl. Gemäß dem Spitzenkandidatenprinzip bei Europawahlen soll der Posten des Kommissionspräsidenten an den Spitzenkandidaten der Gewinnerpartei gehen. Nachdem das Modell bei der letzten Europawahl umgangen wurde, ist eine künftige Verankerung Gegenstand der Debatte um eine Wahlrechtsreform.

Sperrklausel

Wie steht es um eine Sperrklausel bei Europawahlen? Wann wurde sie in Deutschland abgechafft? Wie steht es um die Aussichten einer künftigen Einführung einer 3,5- Prozenthürde für größere EU-Staaten?

Sperrklausel

 

Transnationale Listen und Zweitstimme

Ein zentraler Punkt der geplanten Wahlrechtsreform ist die Einführung transnationaler Listen und einer Zweitstimme? Wie könnte dies funktionieren? Wie viele Mandate sollen drüber vergeben werden?

Transnationale Listen

EU-Wahlsystem

Wie ist das Wahlsystem bei den Wahlen zum Europäischen Parlament derzeit geregelt? Wie ist die aktuelle Sitzverteilung?

Wahlsystem

EU-Wahlrecht

Wie ist das Wahlrecht bei den Wahlen zum Europäischen Parlament derzeit geregelt? Wie wird gewählt?

Wahlrecht

Was sind Spitzenkandidaten?

Wer an der Spitze einer Partei zu einer Wahl antritt, ist Spitzenkandidat bzw. Spitzenkandidatin. Er oder sie steht in der Regel ganz oben auf der jeweiligen Wahlliste einer Partei bzw. eines Parteienbündnisses. Erhält die Partei bei einer Wahl rechnerisch die Mehrheit der Stimmen, ist die Chance groß, dass der Gewinnerkandidat den entsprechenden Chefposten auch erhält – beispielsweise das Amt des Bundeskanzlers, das Amt des Ministerpräsidenten eines Landes oder das Amt des EU-Kommissionspräsidenten. Jedoch tritt der Gewinner am Ende nicht zwingend auch das entsprechende Spitzenamt an. Abhängig vom jeweiligen Wahlsystem und den verfassungsrechtlichen Vorgaben können auch andere Personen das Amt bekommen, die mit ihrer Partei weniger Stimmen erhielten.

Wie wird man Spitzenkandidat?

Wie die Ernennung zum Spitzenkandidaten bzw. zur Spitzenkandidatin erfolgt, ist bei in den entsprechenden Satzungen der einzelnen Parteien teilweise unterschiedlich geregelt. Häufig wird die Person auf einem Parteitag oder auch von einem Vorstand gewählt. Auch im Vorfeld von Europawahlen werden die Spitzenkandidaten der Fraktionen vorab auf den Treffen der Parteienbündnisse gewählt.

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Das EU-Spitzenkandidatenprinzip seit 2014

Das Spitzenkandidatenprinzip bei Europawahlen wurde erstmalig 2014 ins Leben gerufen. In Anlehnung an die nationalen Wahlen erhoffte man sich, dass das Prinzip auch auf europäischer Ebene zu mehr Bürgernähe führen würde.

Gemäß dem Prinzip soll das Amt des EU-Kommissonspräsidenten automatisch an die Person vergeben werden, die bei dem Parteienbündnis mit den meist erhaltenen Stimmen auf der Wahlliste ganz oben steht, demnach Spitzenkandidat ist. Mit der Aufstellung als Spitzenkandidat eines Parteienbündnisses ist man sozusagen auch gleichzeitig Bewerber bzw. Bewerberin um das Amt des  Kommissionspräsidenten.

Bei der Europawahl 2019 wäre dies eigentlich Manfred Weber vom Bündnis EVP gewesen. Doch der Widerstand der Staats- und Regierungschefs gegen ihn war so groß, dass das Spitzenkandidatenprinzip kurzerhand umgangen wurden. Stattdessen wurde Ursula von der Leyen zur EU-Kommissionspräsidentin ernannt. Entsprechend war Unmut vorprogrammiert.

Bei der Europawahl 2014 war das Spitzenkandidatenprinzip noch zum Tragen gekommen. Jean-Claude Juncker war damals als Spitzenkandidat für die EVP ins Rennen gegangen und wurde nach dem Sieg des Parteienbündnisses auch tatsächlich zum neuen EU-Kommissionspräsidenten ernannt.

Pro und Contra

Greift das Spitzenkandidatenprinzip bei Europawahlen, bedeutet dies, dass die Regierungschefs der Länder an Macht verlieren, da sie den wichtigsten Posten in der EU nicht mehr alleine vergeben können. Befürworter des Prinzips stellen gerade dies als wichtigen Schritt in Richtung einer bürgernäheren, demokratiefreundlicheren und mit der Vorabfestlegung auf Spitzenkandidaten auch persönlicher werdenden EU dar. Das EU-Parlament darf den Kommissionspräsidenten zwar derzeit letztendlich wählen, allerdings nur, nachdem ihm die Staats- und Regierungschefs einen Vorschlag unterbreitet haben. Und die Regierungschefs der Länder müssen nicht zwingend einen Spitzenkandidaten vorschlagen, sondern können - wie im Falle Ursula von der Leyens geschehen - auch jemanden anderen zur Wahl stellen.

In Artikel 17 des Lissabonner Vertrags stecke  das rechtliche Fundament für die Installierung von Spitzenkandidaten zur Europawahl, die um den Posten des Kommissionspräsidenten miteinander konkurrieren, so Elmar Brok (CDU, MEP).

„Der Europäische Rat schlägt dem Europäischen Parlament nach entsprechenden Konsultationen mit qualifizierter Mehrheit einen Kandidaten für das Amt des Präsidenten der Kommission vor; dabei berücksichtigt er das Ergebnis der Wahlen zum Europäischen Parlament. Das Europäische Parlament wählt diesen Kandidaten mit der Mehrheit seiner Mitglieder.“

Der französische Präsident Emmanuel Macron hingegen kommt zu einem anderen Schluss: „Es gibt keine rechtliche Grundlage für die Installation von Spitzenkandidaten bei der Europawahl“. Er hatte sich in der Vergangenheit stehts vehement dagegen gewehrt, dass nur ein Politiker, der zuvor Spitzenkandidat seiner Partei bei den Europawahlen war, zum Präsidenten der Europäischen Kommission gewählt werden soll. Aus seiner Sicht mache dieses Prinzip nur Sinn, wenn es bei der Europawahl länderübergreifende und nicht nationale Kandidatenlisten gäbe. Demgemäß müsste Macron nun dem Vorschlag des Europäischen Parlaments, mit der Einführung transnationaler Listen und einer Zweitstimme letztendlich auch den künftigen Kommissionspräsidenten zu bestimmen, nicht abgeneigt sein.

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Das EU-Spitzenkandidatenprinzip in der Zukunft

Verankerung des Spitzenkandidatenprinzips

Da das Spitzenkandidatenprinzip im EU-Vertrag bislang noch nicht fest verankert ist, ist es derzeit noch möglich, dieses als eine Art Gewohnheitsrecht eingeführte Modell zu umgehen. Dieser schleichende Verfassungswandel soll nun nach dem Willen des Europäischen Parlaments über eine Wahlrechtsreform verstetigt werden, damit es künftig verbindlich zum Tragen kommt. Im Mai 2022 hat das Europäische Parlament über Refomen des EU-Wahlrechts abgestimmt, die unter anderem auch das Spitzenkandidatenprinzip beinhalten. Damit dieser Vorschlag greift, müsste allerdings noch der Rat der Europäischen Union zustimmen. Das stand vor der Europawahl 2024 noch aus, sodass die Reform – wenn überhaupt – erst zu einem späteren Zeitpunkt umgesetzt wird.

In den traditionellen Parteifamilien – Christdemokraten (EVP), Sozialdemokraten (S&D), Liberale (RE), Grüne und Konservative (ECR) – haben die strategischen Vorspiele begonnen, mit welchen Kandidierenden an der Spitze sie ins Rennen gehen möchten. Definitive Entscheidungen werden erst im Herbst bei den anstehenden Kongressen erwartet.
Jedoch ist mangels einer Verankerung des Spitzenkandidatenprinzips auch bei der anstehenden Europawahl nicht gewährleistet, dass der Spitzenkandiderende der Fraktion, welche die meisten Stimmen erhalten hat, auch die Kommissionspräsidentschaft besetzen wird.  

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Spitzenkandidierende für die Europawahl 2024

Auch für die Wahl 2024 haben die Parteien wieder eigene Spitzenkandidatinnen und -kandidaten aufgestellt. Eine Übersicht finden Sie unter Europäische politische Parteien und ihre Spitzenkandidierenden.

Stand heute ist die Besetzung des wichtigsten Brüsseler Postens nach wie vor ein Aushandlungsprozess, in dem die Staats- und Regierungschefs eine Schlüsselrolle spielen. Die Aufstellung von Spitzenkandidierenden birgt somit auch das Risiko, die Wählerinnen und Wähler abermals zu enttäuschen, wie bei der Europawahl 2019 geschehen.

Das Spitzenkandidatenprinzip im europaweiten Wahlkreis

Die Reformvorschläge gehen noch weiter. Die proeuropäischen Fraktionen im Europäischen Parlament möchten künftig Bürgerinnen und Bürger direkter darüber abstimmen lassen, wer die führenden Positionen in der EU erhält. Hierfür will das EU-Parlament einen zusätzlichen europaweiten Wahlkreis schaffen. Über gesamteuropäische und transnationale Listen sollen am Ende 28 Mandate vergeben werden, zusätzlich zu den bisherigen 705 Sitzen des EU-Parlaments. Auf den Listen sollen zu gleichen Teilen Männer und Frauen kandidieren, die aus mindestens 14 Ländern kommen sollen. Kritiker bemängeln, dass bei einer relativ niedrigen Anzahl von 28 Sitzen der Hinzugewinn hauptsächlich symbolischer Natur wäre. Auch würden solche Listen eine Wahl letztendlich undemokratischer machen, da die Bürgernähe fehle, wenn man fremde Kandidierende aus anderen Ländern wählen würde und der persönlichen Bezug fehle. Dadurch würden die Gräben zwischen dem Europäischen Parlament und den Bürgern sogar noch vertieft.

Gewählt würden die europaweiten Kandidatinnen und Kandidaten über gemeinsame Listen in allen EU-Staaten mittels der Einführung einer Zweitstimme. Das Wahlverfahren müsste hierfür in allen Mitgliedstaaten gleich sein. Dadurch hätte auch jede für die transnationale Liste vergebene Stimme gleich viel Gewicht.

Die Wählerinnen und Wähler könnten also nicht nur ihr Kreuz bei den national aufgestellten Kandidaten machen wie es bislang der Fall ist, sondern europaweite Kandidaten wählen. Und zum Kommissionspräsident würde dann letztendlich der Spitzenkandidat jener Partei gewählt, die im europaweiten Wahlkreis die meisten Stimmen bekommt, so die Vorstellung des Europäischen Parlaments. Der Vorschlag besagt, „dass Spitzenkandidaten in allen Mitgliedstaaten auf den EU-weiten Listen kandidieren können sollten, sodass die Wähler für ihren bevorzugten Kandidaten für das Amt des Kommissionspräsidenten stimmen können“. Zudem sollen offenbar aus den Listenkandidaten auch die EU-Kommissare besetzt werden. Dass diese Refornvorschläge bereits bei der nächsten Europawahl 2024 zum Zuge kommen werden, ist unrealistisch.

Aktualisierungen des Europäischen Wahlakts unterliegen einem besonderen Beschlussfassungsverfahren. Nachdem das Europäische Parlament einen Vorschlag eingebracht hat, kann der Rat der Europäischen Union diesen noch ändern und muss den Text einstimmig annehmen. Alle 27  EU-Mitgliedstaaten müssen somit die Bestimmungen im Rat genehmigen, bevor sie in Kraft treten können. Anschließend müssten auch alle nationalen Parlamente der EU-Staaten das neue EU-Recht ratifizieren.

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